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Fränkische Nachrichten, 22.04.2017 |
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Musik von unerhörter Kühnheit |
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Johannes-Passion von Alessandro Scarlatti in der Schlosskirche |
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Erwähnt man die Johannes-Passion im musikalischen Kontext, denkt man natürlich zunächst an Bachs aufwühlendes Meisterwerk. Dass es zwischen dem 16. Jahrhundert und unseren Tagen von Meistern wie Schütz und Telemann bis hin zu Arvo Pärt oder Sofia Gubajdulina in Europa noch Dutzende anderer Komponisten gegeben hat, die sich an diesem gewaltigen Stoff versuchten, gerät dabei leicht aus dem Blick. Eine Johannespassion ganz eigener Art und Ausstrahlung hat beispielsweise der Großmeister der neapolitanischen Oper, Alessandro Scarlatti (1660-1725), geschaffen. Anlass genug für den renommierten Chor Cappella Nova unter seinem Leiter Walter Johannes Beck, sie in seinem jüngsten Konzert als Beitrag zur Karwoche einmal abseits viel begangener Pfade in der Schlosskirche zu präsentieren. Ergänzt wurde sie in der gut besuchten Aufführung durch geistliche Vokalmusik eines noch früheren italienischen Meisters, den "Tenebrae Responsorien" zu Texten des Johannesevangeliums von Carlo Gesualdo da Venosa (1566-1613). Scarlattis um 1680 entstandene barocke Johannespassion hat abgesehen von der Textgrundlage freilich wenig mit der von Bach gemein: Sie verzichtet ganz auf Arien und begnügt sich mit der Vertonung des Textes in Form begleiteter Rezitative des "Zeugen" bzw. Solo-Evangelisten und der in der katholischen Liturgie üblichen Solistenrollen von Jesus, Pilatus und anderen und des gelegentlich in kurzen Einwürfen eingreifenden Chors. Dies war natürlich mit ein Grund, dass in dieser Aufführung die Scarlatti-Passion mit den inhaltlich passend eingeschalteten und den gleichen Stoff behandelnden Responsorien bzw. Antwortgesängen von Gesualdo da Venosa kombiniert wurden. Sie ermöglichten dem Cappella Nova Chor erst, in insgesamt sechs sechsstimmigen Madrigalgesängen seine eigentliche, imponierende Leistungsfähigkeit zu demonstrieren. Der Adelige Gesualdo, der darob nie bestrafte Mörder seiner ersten Gattin und ihres Liebhabers, gehört auch (aber nicht nur) darum zu den faszinierendsten und am meisten geheimnisumwitterten Gestalten der abendländischen Musikgeschichte. Beim Hören dieses seines ebenso düsteren wie ungeheuer ausdrucksstarken Alterswerks mag das Bewusstsein der rätselhaften Persönlichkeit seines Schöpfers die davon ausgehende Wirkung bei vielen noch zusätzlich erhöhen. Diese noch vom Madrigalstil der Renaissance geprägten Responsorien auf kurze Textauszüge der Johannespassion, die gewissermaßen die Funktion von musikalisch textvertiefenden Kommentaren einnehmen, erscheinen uns mit ihren schneidenden Dissonanzen, harmonischen Schroffheiten und extremen Ausdruckssteigerungen heute als eine Musik von unerhörter persönlicher Kühnheit und Modernität, und man versteht, warum dieser Musiker gerade im 20. Jahrhundert neu entdeckt wurde und auch eine Reihe zeitgenössischer Komponisten - so unter anderem auch Igor Strawinsky - zu Werken oder Bearbeitungen angeregt hat. So wurde bei dieser Aufführung Passionsmusik aus zwei Epochen mit ihren jeweils unterschiedlichen Stilen und Ausdrucksformen geboten und zugleich zwei künstlerisch verschiedene Sichtweisen der Leidensgeschichte nach Johannes veranschaulicht - lebhaft miteinander kontrastierend und dennoch nicht disparat, sondern sich gegenseitig ergänzend und bereichernd. Zum einen der ruhige und meditative, etwas gleichförmige Fluss von Scarlattis Erzählung, schlicht und zugleich intensiv eindringlich vorgetragen von den instrumental sparsam aber effektvoll begleiteten Solisten, auf der anderen Seite die darin eingeschalteten und integrierten eigentlichen Höhepunkte dieser Doppel-Aufführung in Form von Gesualdos Responsorien, deren herber, dicht gearbeiteter Polyphonie - meist a cappella gesungen - sich der Cappella Nova Chor eindrucksvoll gewachsen zeigte und die zugleich die spannungsgeladene, dramatische Dimension (so im hochexpressivem "Tenebrae factae" oder in den ekstatischen Ausbrüchen von "Vinea mea electa") des Geschehens beisteuerten, die in Scarlattis mehr introvertierter Passion nicht so im Vordergrund steht. Dafür vernahm man in letzterer überaus präzise und feinfühlig agierende Begleitinstrumentalisten. Die Leistungen der Vokalsolisten waren mehr als nur ansprechend. Der warme und delikate, dezent und sehr nuancenreich klagende Alt von Anna Leuser-Valls in der Rolle des Testo/der Evangelist(i)n oder der ebenso eindringlich wie kultiviert singende, würdevolle Christus von Manfred Birkhold, um die hauptsächlichen Rollen zu nennen. Der Schlussbeifall in der Schlosskirche war dementsprechend herzlich und lang anhaltend. Thomas Hess |
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